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Olaf Köller, Direktor des IPN Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, hat jüngst das „MINT-Nachwuchsbarometer 2023“ veröffentlicht. Die Studie ist als „bundesweiter Trendreport“ angelegt. Dabei werden „die wichtigsten Zahlen, Daten und Fakten zur Nachwuchssituation im MINT-Bereich von der schulischen Bildung bis zur beruflichen Ausbildung und zum Studium“ gesammelt und kommentiert. Die Herausgeber acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und die Joachim Herz Stiftung wollen durch das Monitoring zentraler Indikatoren „empirisch fundierte Erkenntnisse zu aktuellen Entwicklungen und Handlungsfeldern in der MINT-Bildung sowie Hinweise auf Faktoren und Motive, die die Studien- und Berufswahl junger Erwachsener beeinflussen“, darstellen. Damit soll eine fundierte Entscheidungshilfe für die Verantwortlichen in Bildung, Politik und Wirtschaft geliefert werden, um so eine „nachhaltige Stärkung der MINT-Situation in Deutschland“ zu bewirken. Und diese MINT-Situation hat es in sich.
Denn die Bildungsforscher um Olaf Köller in Kiel sehen die sich seit Jahren vergrößernden Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen im Fach Mathematik bestätigt und sind alarmiert: „Die Geschlechterunterschiede bei den mathematischen Leistungen nahmen während der letzten zehn Jahre erheblich zu. In der 4. Klasse haben Jungen gegenüber Mädchen einen Leistungsvorsprung von rund 15 Lernwochen. In der MINT-Ausbildung ist nur eine Frau unter acht Auszubildenden, im dualen MINT-Studium beträgt der Frauenanteil nur 20 Prozent, unter den Absolvierenden eines klassischen MINT-Studiums hingegen stieg ihr Anteil leicht auf 31 Prozent.“ Doch nicht nur die Mädchen machen diesbezüglich Sorgen: Mit 22 Prozent der Viertklässler hat sich 2021 im Fach Mathematik die sogenannte Risikogruppe seit 2011 beinahe verdoppelt. Dazu kommt, dass Kinder mit Migrationshintergrund offenbar besonders benachteiligt sind: „Der Leistungsabstand in Mathematik von Kindern mit Migrationshintergrund der ersten Generation zu Kindern ohne Migrationshintergrund entsprach 2021 fast eineinhalb Schuljahren.“
Was ist angesichts der Lage zu tun? Die Ersteller der Studie geben etliche Empfehlungen, denn „dass wir viele Mädchen früh für die MINT-Bildung verlieren, sollten wir – schon wegen des Fachkräftemangels – nicht hinnehmen“, meint Olaf Köller. Der MINT-Bereich werde von vielen, häufig unbewusst und ungewollt, als eher männlich geprägt wahrgenommen. Erfolgreiche Role Models – so die Forscher – könnten weibliche Schüler in ihrer Berufsentscheidung für MINT unterstützen, „wenn für die Mädchen eine hohe Identifikation gegeben ist.“ Außerdem wird eine „schnellstmögliche Umsetzung von Maßnahmen zur Stärkung mathematischer Kompetenzen durch die Länder, beispielsweise durch Erhöhung der Mathematikstunden, Bereitstellung von Förderangeboten und Sicherstellung des Ganztagsangebots sowie eine bedarfsorientierte Finanzierung von Schulen“ gefordert. Wichtig ist den Erstellern des Nachwuchsbarometers auch, dass „Initiativen und zusätzliche Professionalisierung von Förder- und Lehrkräften zur systemischen Diagnose und Frühförderung in mathematischen und sprachlichen Basiskompetenzen“ etabliert werden.
Es stellt sich allerdings bei aller Seriosität der vorgelegten Studie die Frage, ob die MINT-Bildungslücken nahezu ausschließlich über die Bildungsungerechtigkeit, die durch die „Ungerechtigkeit“ sozialer Verhältnisse erklärt wird, durch eine wie auch immer geartete Sozialpolitik geschlossen werden können. Das wird zwar nicht behauptet, könnte man aber zwischen den Zeilen lesen. Und es bleibt auch die Frage, ob es hilft, die MINT-Schwäche deutscher Schülerinnen in Stärke zu verwandeln, wenn „Anstrengungen unternommen werden, um […] wirkmächtig[e] Geschlechterstereotype zu überkommen“, die die MINT-Fächer „männlich“ erscheinen lassen. Die Versäumnisse einer langjährigen zum großen Teil links gewichteten Bildungspolitik werden meines Erachtens auf diese Weise kaum repariert.
Download der Studie: MINT Nachwuchsbarometer 2023 – acatech