Alte Kulturtechniken aufzugeben – ist das sinnvoll?

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Der Physiker, Mathematiker und Technikphilosoph Armin Grunwald beschäftigt sich seit Jahren mit den Folgen technischer Entwicklungen und leitet seit 1999 das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) in Karlsruhe. Er schreibt 2018 in seinem Buch „Der unterlegene Mensch – Die Zukunft der Menschheit im Angesicht von Algorithmen, künstlicher Intelligenz und Robotern“: „Digitalisierung polarisiert. Digitale Erlösungsfantasien und apokalyptische Befürchtungen stehen sich schroff gegenüber. Viele Menschen scheinen sogar in sich selbst gespalten zu sein: Auf der einen Seite nutzen sie begeistert jede neue App, auf der anderen Seite sind sie besorgt, wohin das alles führen soll. […] Gerade in der Digitalisierung steht zu viel auf dem Spiel, als dass wir es uns leisten könnten, nach dem alten Prinzip von Versuch und Irrtum zu verfahren. Angesichts der Tragweite der gesellschaftlichen Veränderungen und der Möglichkeit eines Point of no Return wäre eine solche Naivität grob fahrlässig. Sie wäre ethisch, politisch und ökonomisch verantwortungslos. Wir brauchen einen nüchternen Blick auf das Spektrum der möglichen Folgen, um vernünftig abwägen und uns ein angemessenes Urteil bilden zu können.“

Mit der aktuellen Diskussion um die Textmaschine ChatGPT und die Eroberung der Klassenräume der Zukunft durch Künstliche Intelligenz haben Grunwalds Worte mehr Brisanz als noch vor sechs Jahren. Bayerns momentaner Bildungsminister Michael Piazolo (Freie Wähler) beispielsweise will eine digitale Lehr- und Lernkultur mit Notebooks und Tablets als „neue Normalität“ an den Schulen implementieren. So sollen alle Schüler ab der fünften Klasse möglichst bald über ein digitales Endgerät verfügen, das vom Freistaat bezuschusst werde, berichtet news4teachers.de und weiter: „Im kommenden Schuljahr werde deshalb der Pilotversuch zu einer solchen 1:1-Ausstattung von bisher 250 Schulen um weitere 100 Einrichtungen ausgeweitet. Ab dem Schuljahr 2024/25 sollten sich dann alle der bayernweit rund 4000 weiterführenden und beruflichen Schulen auf diesen Weg machen können.“ Außerdem resümiert Piazolo erfreut, dass die Digitalisierung der Schulen durch die Corona-Pandemie offenbar einen riesigen Schub erhalten hat. Ganze rund 71.500 digitale Klassenzimmer sowie mehr als 560 000 mobile Endgeräte für Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte gäbe es zurzeit. 99 Prozent der Schulen verfügen gar über schnelles Internet…

Doch angesichts eingangs zitierter Passagen aus Grunwalds Folgenabschätzung gerät die Euphorie der Digitalisierungsbefürworter etwas ins Wanken. Denn nicht nur Grunwald bleibt skeptisch. Auch etliche Eltern erfüllt der Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) an Schulen mit Sorge. 60 Prozent gaben in einer Umfrage der Vodafone Stiftung an, dass sie im KI-Einsatz eher eine Gefahr sehen. Der Tausch von Heften und Stiften gegen Laptops und Tablets wird auch vom Verband Bildung und Erziehung e.V. skeptisch gesehen. Unter der Überschrift „Tippst du noch oder schreibst du schon?“ stellt Gerhard Brand, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), beispielsweise fest: „Eins steht fest: Handschreiben ist mehr als das Schreiben mit der Hand, mehr als eine überholte Kulturtechnik. Es hat positive Effekte auf die Gehirnfunktion, löst einzigartige Reize aus und sorgt für die Entwicklung und Vernetzung von Synapsen, fördert Rechtschreibung, Lesekompetenz, Textverständnis und den generellen Wissenserwerb. Kurz: Es legt Pfade im kindlichen Gehirn an, die ansonsten unbeschritten blieben und entfaltet seine Wirkung auf den gesamten Bildungs- und Lernprozess der Schülerinnen und Schüler.“ Der Verband Bildung und Erziehung Baden-Württemberg warnt davor, dass jedes fünfte Kind mit mehr oder weniger Sprachproblemen und Spracharmut zu kämpfen habe. Das liege daran, dass Kinder und Jugendliche Fernsehapparate „und das Internet die ganze Welt in bunten Bildern frei Haus geliefert“ bekämen. Nichtsdestotrotz „könnten aber immer weniger mit Worten ausdrücken, was sie gesehen haben.“ Der baden-württembergische VBE meint: Eltern könnten ihre Kinder äußerst kostengünstig fördern, wenn sie ihnen sehr früh regelmäßig vorlesen würden, darüber redeten und lieber öfter Bilderbücher als den Bildschirm anböten.